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Geheimes Licht

Es war minimal vor der Höhe. Eine reiche Kurstadt, die Kreisstadt des Hochtaunuskreises. Der Werbespruch aus den Stuben der Stadtverwaltung lautet kühn „Champagnerluft und Tradition“. Die Stadt, in der der König Alfred starb. Wie an jeden Morgen fuhr er in seinem gepanzerten Mercedes nach Frankfurt am Main, wo er in einem der zahlreichen Stadttürme aus Beton und Glas residierte. Und wie so viele andere auch und vor ihm strebte der Alfred und seine Bande nach der Weltherrschaft. Das herrenlose Fahrrad am Wegesrand fand wie so oft keine Beachtung. Die heftige Detonation, die die morgendliche Champagnerluft zerriss, fand medial größere Beachtung im deutschen Lande. Zeitungen druckten Sonderausgaben zu Ehren des Königs Alfred und verbreiten rasant das Bild, der König war doch ein Guter. Die professionell installierte Sprengfalle auf dem Weg zur „Arbeit“ beendete das Bestreben nach Weltherrschaft jedoch nicht, sie tötete nur den König Alfred.

Bernd arbeitete für eine Multimedia-Agentur in der benachbarten Zwiebackstadt Friedrichsdorf. Wohnte im beschaulichen Bad Homburg vor der Höhe. Bevor der König Alfred dort starb. Und eigentlich war der Grund der Anwesenheit Bernds ein anderer. Die Arbeit in der Multimedia-Agentur nur so eine Art Tarnung und was die monatlichen Einkünfte betraf, auch nicht so ergiebig. Bernd hatte im Laufe der Jahre eine ausgeprägte Leidenschaft für lukrative Geschäftsideen entwickelt. Zum Beispiel einen 24/7 Gassi-Service nur und ausschließlich für Dackel. Über eine lange Zeit betrieb er ein dubioses „Büro für Überschwemmung Weltweit“, mit mäßigem Erfolg. Aber in Bad Homburg witterte er eine weitere Geschäftsidee, die ihn über die nächsten Jahre hohe Einkünfte bescheren könne, denn schließlich ist die Stadt voll gestopft mit Reichtum jeder Art. Da müsse doch was gehen.

So gab es am Stadtrand, nahe am Wald gelegen, ein großes Anwesen mit einer sehr alten, aber doch sehr gepflegten Villa, die sein Interesse weckte. Das Anwesen wurde mit vielen Kameras Tag und Nacht überwacht. In der Stadt erzählte man sich, dort wohne eine ältere, sehr vermögende Witwe und ihr Name sei Johanna. Ihre zwei Kinder Susanne und Stefan waren schon groß und hatten erfolgreich Führungspositionen in den eigenen Unternehmen übernommen. So war die Zeit, dass sich die beiden Kinder um ihre betagte Mutter kümmern konnten, eher begrenzt. Johanna war für ihr hohes Alter noch sehr rüstig und es war für sie selbstverständlich, die täglichen Besorgungen persönlich zu erledigen. Selbst Autofahren war für sie überhaupt keine große Sache. Es war ihr auch immer wichtig, mit den einfachen Leuten auf der Straße in Kontakt zubleiben, schließlich lebte sie in dieser Stadt schon sehr lange.

Die Geschäftsidee war eigentlich ganz simpel, es war kein größerer Businessplan notwendig, ein wenig Ausdauer und Beobachtungsgabe, das war eigentlich alles. Um die Gunst der älteren Dame zu erlangen, wollte er, musste er nur behilflich sein. Im alltäglichen Leben eine doch vollkommen normale Sache. Keine große Sache. Keine großen Investitionen wären nötig, nur einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Eine Art Nachbarschaftshilfe. Ein guter Plan. Und wenn er das regelmäßig und öfter mache, wird die Zeit der Ernte kommen. So wartete Bernd jeden Tag auf seine Gelegenheit, die Gelegenheit, die schweren, vollen Einkaufstüten von Johanna zu ihrem Auto zu tragen. Das wird sich dann irgendwann sicher bezahlt machen.

Tage später wachte er in seiner Dachwohnung auf und alles schien wie immer. Es war minimal am Mittwoch und die Wände und das Zimmer waren alles noch so wie beim Einschlafen. Wie jeden Morgen schalte er kurz den Fernseher ein, um zu kontrollieren, ob die Bilder noch da sind, nachdem er das Gerät gestern Abend ausgeschaltet hat. Da spürte er zum ersten Male, irgendwas ist anders an diesem Tag. Er hatte sichtbar Probleme, sich richtig zu bewegen; viele sonst alltägliche Handgriffe gingen nur schwierig. Er fühlte sich ein wenig wie gelähmt. Auch das morgendliche Anziehen ging nur schwer von der Hand, zu den Schnürsenkeln seiner Schuhe konnte er sich nur unter äußerster Mühe bewegen und hatte auch kaum die Kraft, die Schuhe mit einer Schleife zu verschließen. Ein Schluck Wasser auf den Schreck, aber er bekam den Schraubverschluss der Mineralwasserflasche nicht auf, er konnte die Finger nicht entsprechend bewegen. Es machte ihm Angst. Erinnerungen, Fragmente an die letzte Nacht kamen ihm in den Sinn. Die war unruhiger als sonst. Die Träume heftiger. Aber waren das wirklich Träume? Da war er sich in seinem jetzigen Zustand nicht mehr wirklich sicher. Da war Wind, warmer Wind und viel viel Licht und seltsame Geräusche. Das kann alles nicht sein. Nachdem er seinen Arbeitgeber informiert hat, dass er heute nicht zur Arbeit kommen könne, kümmerte sich Bernd um einen Termin beim Hausarzt. Die Ärztin untersuchte ihn am frühen Mittag in ihrer Praxis und kam nach einer Weile zu der Erkenntnis, es sei eigentlich alles in Ordnung. Aus einem Schrank mit Medikamentenmuster holte sie eine Packung hervor und gab sie ihm mit dem Hinweis, die Salbe dreimal täglich aufzutragen und in zwei, drei Tagen doch noch einmal in die Sprechstunde zukommen. Und versuchen Sie, körperliche Anstrengungen zu vermeiden. Dann schauen wir, ob sich der Zustand verbessert. Mit einem seltsamen Gefühl verließ er die Arztpraxis. Er hatte körperliche Beschwerden. Er spürte sie in jeder Bewegung. Und die Ärztin sagte, es sei alles normal und gab ihm nur eine Salbe. Sonst nichts. Da beschlich ihm die Angst, was ist, wenn das nun immer so bleibt? Wenn der alte Zustand nicht mehr zurückkehrt? Die darauffolgenden Tage veränderte sich nichts. Die täglichen Bewegungsabläufe waren weiterhin nur unter größter Mühe zu bewältigen. So gab es viel Zeit, noch einmal die letzte Nacht vor dieser körperlichen Veränderung noch einmal zu rekonstruieren. Wind, warmer Wind und viel viel Licht und seltsame Geräusche kamen ihm erneut in den Sinn. Und wage, in seinen Gedanken tat sich was. Da war schon einmal dieses Licht. Schleierhaft kam es zurück in seine Erinnerungen und je länger er darüber nachdachte, umso deutlicher wurde es. Im Jahr sieben, nachdem die DDR über Nacht größer geworden ist, erlebte er eine ähnliche Situation.

Zu der Zeit lebte er in Berlin. West-Berlin. Im Wedding. Zwei Zimmer, Küche und Bad. Sozialer Wohnungsbau. Neubau an der Müllerstraße, gleich beim Leopold Platz, mit Blick auf Karstadt von hinten. Er war Vater geworden. Die kleine Marie schlief mal wieder unruhig, wachte weinend auf, die ersten Milchzähne zeigten sich bereits. Er nahm sie aus dem Bett und versuchte sie erneut in den Schlaf zu wiegen. Diese Neubauwohnung war so konstruiert, dass man stundenlang im Kreis laufen konnte. Von der Küche aus in den Flur, links dann in das Wohnzimmer, von da auf den Balkon und überdacht wieder zurück in die Küche. Super praktisch. Vor allem, wenn kleine Kinder nicht schlafen wollten. So drehte er auch in dieser Nacht wieder langsam einige Runden, immer mit seiner Tochter Marie in den Armen gehalten, Runde für Runde. Wie oft verfluchte er diese nächtlichen „Störungen“, und an manchen Nächten verfluchte er nicht nur diese Störungen, sondern auch die kleine Marie, die bisher nur die Basics drauf hatte wie z.B. Essen, Trinken, Weinen und Lachen oder die Windeln vollmachen. Sprechen oder laufen wurden erst mit einem späteren Update versprochen. Aber wo kamen nur diese bösen und oft sehr brutalen Fantasien her, die ihn in diesen Momenten überkamen. Wenn sie doch nur sagen könnte, wo es zwickt. Diese alleinigen Vermutungen, warum und wieso das Kind weint oder schreit, zeigten doch eine gewisse Hilflosigkeit diesem kleinen Wesen gegenüber. Die letzten Runden waren gedreht, Marie schlummerte friedlich wieder in ihrem Bettchen. Bernd jedoch konnte bislang nicht wieder einschlafen und stand barfuß auf dem Balkon und gönnte sich diese kleine Pause nach den anstrengenden Runden. Manchmal fragte er sich, wie viel Kilometer bin ich eigentlich schon hier in dieser Wohnung im Kreis gelaufen?

Die Stadt schlief, es war mitten unter der Woche. Warmer Wind wehte und als er nach einer Weile, die er so reglos da stand, zum Himmel hinaufschaute, sah er ein sehr starkes helles Licht. Seltsam, sehr seltsam. Das Seltsame daran war jedoch nicht das Licht selbst, sondern die Art und Weise, wie es in Erscheinung trat. Diese Laserbeamer, die oft bei Partys oder Events eingesetzt werden, werfen kilometerweite Lichtmuster von unten, vom Boden schräg abstrahlend, an den Himmel. Aber in dieser Nacht kamen diese Lichtkreise, eindeutig von oben! Kreisförmige, wie riesige Ananasscheiben aussehend, waren diese Lichtkreise am Himmel zu sehen, die sich langsam bewegten und nach ein paar Minuten in der Nacht wieder verschwanden. Fassungslos schaute er zum Himmel hinauf. Wie ein Traum, wie eine Fata Morgana, kam ihm diese surreale Situation vor. Und er war absolut nüchtern. Kein Alkohol, keine Drogen im Spiel. Licht von oben, dachte er. An Kornkreise dachte er in diesem Moment. Von oben können doch nur Flugzeuge, Drohnen oder Raumschiffe Zeichen an den Himmel projizieren. Aber Geräusche von Flugzeugen waren in dieser Nacht nicht zu hören. Nur starkes Licht und warmer Wind. Das können nur Außerirdische gewesen sein. Wer das außer ihm wohl gesehen hat? Raumschiffe über Berlin Wedding?! In den Zeitungen, im Radio oder im Fernsehen wurde an den nächsten Tagen nichts dergleichen berichtet. Nachrichtensperre? Er fühlte sich einsam. Niemand würde ihm Glauben schenken, wenn er von den Ereignissen in dieser Nacht, die er doch mit eigenen Augen gesehen hat, erzählen würde. Sie würden das nicht für Ernst nehmen und ihn am Ende noch für verrückt erklären. Aber sie waren da! Eindeutig. Außerirdische schienen Kontakt mit ihm aufnehmen zu wollen. Sie gaben ihm ein Zeichen und verschwanden im Dunkel der Nacht.

Aber jetzt lebte er über 600 km entfernt von Berlin und einige Tage später hörte er eine Meldung im Radio. Am Frankfurter Flughafen ist es in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch zu großen Beeinträchtigungen gekommen. Da die außergewöhnliche Gefahrenlage bisher nicht unter Kontrolle sei, muss auch in den folgenden Nächten mit weiteren Störungen gerechnet werden. Alle zuständigen Behörden seien informiert über diese Zwischenfälle und arbeiten an der Beseitigung. Zum jetzigen Zeitpunkt kann aber noch nichts Genaues zu den möglichen Umständen gesagt werden. Für die Bevölkerung und die Fluggäste würde aber definitiv keine Gefahr bestehen. Der Flughafenbetrieb geht normal weiter. Seltsame Meldung dachte er sich. Offiziell handelt es sich beim Flughafen Frankfurt um einen zivilen Flughafen, aber im Rhein-Main-Gebiet gibt es immer wieder Gerüchte, dass ein der Öffentlichkeit nicht zugänglicher Bereich intensiv vom US-Militär genutzt wird. Nur die amerikanischen Militärs haben dort Zutritt, sonst niemand. Der Bereich des Flughafens soll ein Sonder gebiet Status haben, und wird von den USA verwaltet. Selbst deutsche Behörden haben, wenn überhaupt, nur eingeschränkt Zutritt. Weiter gibt es Vermutungen über ein großes unterirdisches Tunnelsystem, das selbst von den größten US-Militär-Transportern befahren werden kann. Auch soll es angeblich einen 140 km langen mehrspurigen Tunnel vom Flughafen Frankfurt zur Ramstein Air Base geben. Ein weiterer dieser geheimen Tunnel soll den Flughafen unterirdisch mit dem „Dagger Complex“ verbinden. Dieser befindet sich in der ca. 30 km entfernten Stadt Darmstadt an der Gemarkungsgrenze zum Ort Griesheim. Der „Dagger Complex“ wiederum ist ein Stützpunkt, der von den militärischen Nachrichtendiensten der Vereinigten Staaten genutzt wurde. Es wird vermutet, dass in diesem Komplex verschiedene Geheimdienste, sowie nachrichtendienstliche Einheiten der Vereinigten Staaten Spionage betreiben − zum Teil in einem unterirdischen Komplex. Alles natürlich absolut streng geheim.

Das alles kann doch kein Zufall sein, dachte er sich in diesem Moment. Die Lichtkreise vor ein paar Jahren und jetzt erneut seine körperlichen Beeinträchtigungen. Das muss zusammen hängen. Diese Militärbasen sind doch komplett hochgesichert gegen Terroranschläge und alle Arten von Eindringlingen. Aber was, wenn etwa Außerirdische, wo wir offiziell gar nicht wissen, wie solche Ausschauen unauffällig in so eine Militärbase eindringen wollen oder müssen? Die können ja nicht einfach mal ihr riesen Raumschiff da drinnen parken. Viel zu auffällig. Oft zeigt uns Hollywood irgendwelche schleimigen Mutanten, die hässlich ausschauen als Außerirdische und die täten doch sofort am Eingang von so einer Militärbase auffallen. Sie haben ihm vor Jahren schon ein Zeichen gesendet, und sie wussten genau, wo sie ihn jetzt finden würden, um ihre geheime Aktion durchzuführen. Der Kreis schließt sich.

Denn das Einzige, was diesen Außerirdischen wirklich von Nutzen wäre, um so eine Mission durchzuführen, so dachte Bernd auf einmal, wären die Körperhüllen von lebenden Erdenbewohnern. Damit es dann aber nicht zu heiklen Situationen kommt, die die Aktion womöglich gefährden würde, wäre es doch am sichersten, dass der Mensch, von dem sie sich die Körperhülle ja nur ausgeliehen haben, möglichst zu Hause bleibt. Das erklärt dann auch seine plötzlichen körperlichen Einschränkungen. Und mit so einer menschlichen Tarnung wäre es doch ganz einfach, geheime Missionen am Flughafen Frankfurt erfolgreich durchführen. Bis heute ist darüber offensichtlich nichts an die Öffentlichkeit gekommen. Bernd vermutet auch hier wieder eine Nachrichtensperre, damit es nicht zur Panik in der Bevölkerung kommt.

Er war noch für weitere drei Tage krankgeschrieben. Da sich sein Zustand auch ohne diese Salbe mehr und mehr wieder normalisierte, nutze er die Zeit auf dem Dachboden ein wenig zum Aufräumen. Fast alle Bewegungen konnte er ohne Mühe wieder ausüben, das Greifen mit den Händen jedoch machte ihm immer noch Schwierigkeiten. So kam es, dass ihm beim Räumen eine Kiste aus den Händen glitt und auf den Boden krachte. Dabei fielen zwei kleine graue Plastikrahmen aus der Kiste, die seine Neugierde weckten. Es handelte sich um vergessene Technik, stellte er fest. DIA-Rahmen, analoge Fotografie, in dem grauen Rahmen befand sich eine Folie, lichtdurchlässig. Es gab früher so Projektoren mit einer starken Lichtquelle, die über eine ausgeklügelte Linsentechnik die kleine Folie groß an die Wand projizieren konnten. Total Oldschool dachte er und hielt das erste DIA gegen das Licht. Ektachrome Slide, processed by Kodak stand am Rand. Er sah diffus ein Porträtbild einer jungen Frau. Lange brünette Haare. In einer Wohnung aufgenommen. Eindeutige Küche und er erinnerte sich an sie. An ihren Namen und an den Ort. Wuppertal. Er hob das zweite DIA auf und sah, dass eine Jahreszahl in den Plastikrand geprägt war. Aug 92 und eine Nummer: 36. Dann hielt er das zweite DIA gegen das Licht. Und las: „Kurzum, Artur, lebe weiterhin lustig & abenteuerlich: merke Dir alles, fotokopiere nichts!“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Mensch, der Artur. Er fragte sich unweigerlich, was macht Artur wohl heute? Anna hieß seine damalige Weggefährtin. Machen die beiden jetzt vielleicht Werbung für laktosefreie, vegane Milchersatzprodukte?

Die Türe ging auf. Sag mal Bernd, brennt es hier bei uns? Es riecht krass nach Feuer, als wenn es brennt. Nein, keine Sorge, habe gerade nur ein paar Seiten Papier in der Spüle verbrannt. Papiere verbrannt? Ja, ein paar Seiten handschriftliche Recherche zu einem Text, den ich geschrieben habe. Man weiß ja doch nie, wann die Regierung klingelt. Ja, da magst Du recht haben, oder Außerirdische kommen uns besuchen. Lass uns mal ein Nag Champa vom Satya Sai Baba anzünden, damit der Brandgeruch ein positives Karma bekommt und wir weiterhin lustig & abenteuerlich weiter…